Gisela Finke

August 2020

Mein Appartement bietet mir einen Logenplatz auf den Zugverkehr, ich schaue in die Lücke zwischen dem alten Verwalterhaus und dem aufgelassenen früheren Bahnhofsgebäude: darauscht silbern der ICE vorbei, dröhnend nimmt er von Weitem die große Kurve, und zisch,
schon vorbei. Wie ein Pinselstrich. Dann der grün-blaue RE 2 von Berlin nach Wismar.
Schon etwas gemütlicher. Von seinem letzten Stopp in Karstädt noch nicht wieder ganz in Fahrt. (Zu Karstädt sage ich jetzt nichts.) Und dann die rostbraunen Güterzüge! Endlos lang, ich zähle 40 oder gar 50 Waggons oder auch Container oder Kesselwagen, aber meistens sind es die Rostbraunen – und die Güterzüge, jetzt kommt es, die halten hier! Kommen quietschend und ächzend und klappernd zum Stehen und stehen dann auf dem Gleis, schieben sich vor die Aussicht auf die weiten Felder, und ich kann lesen, was auf den Wägen steht, zum Beispiel „Cargo“ oder „Translink“. Und sie fahren auch nachts und bleiben auch nachts in Klein Warnow stehen, und man fragt sich natürlich, warum. Ist es eine alte Sitte, eine Art kollektivem Urgedächtnis, welches die Güterzüge hier halten lässt? Besuchen sie ihren alten Freund, den Bahnhof? Sie würden auf Gegenverkehr warten, heißt es … nein, nein, das soll natürlich nur die Bevölkerung ablenken von den wirklichen Ereignissen, die hier vorfallen. Denn: warum bitte schön, halten nur die Güterzüge, aber nie der RE und der ICE schon gar nicht? Und meistens befinden sie sich auf der Fahrt Richtung Norden, stelle ich fest, warum passiert das nicht auch in der Gegenrichtung??! Ha! Ich sage es: weil etwas eingeladen wird.
Und das hat mit den Kaninchen zu tun. Die Kaninchen leben, Luftlinie vielleicht 150 m in die andere Richtung, also vom Bahnhof weg Richtung Wald, in Drahtverschlägen, teilweise wie Miniaturplattenbauten übereinander gestapelt. Die Käfige sind so niedrig, dass die weichen
Kaninchenohren oben anstoßen, und so eng, dass an Hoppeln nicht zu denken ist. Bestimmt ein Dutzend, eher mehr Zellen biete das Tiergefängnis auf einem drahtumzäunten sehr großen Grundstück (es wäre also Platz, will ich damit sagen, wenn etwas hier nicht fehlt, dann ist es Platz), auf dem alles Mögliche herumliegt und – steht; in der Mitte eine Art große Holzplattform mit großer Werkbank, und hier sieht man zwei große kräftige Menschen, die tagein, tagaus damit beschäftigt sind, Latten zu zersägen, Draht zu schneiden und für die Kaninchen kleine Ställe zusammen zu nageln, während dabei das Radio läuft und zwei Hunde auf dem Gelände patrouillieren und zwei magere Grinsekatzen auf dem Dach eines Kaninchenturms liegen und einem mit schmalen Augen folgen, wenn man in den Wald will und dort vorbei muss, und man fragt sich, was es bedeutet und was diese Menschen für einen Plan haben oder hatten sie eine schlechte Kindheit?
Endlich die erste Lagebesprechung. Habe schon einige Tage geschrieben, „jedes Wort ist doch nur leer und ohne Sinn“ trillert der Ohrwurm zusammen mit dem inneren Schweinehund, Worte sind Schall und Rauch, es gibt nichts Gutes außer man tut es, aber was? – Da werde ich eingeweiht: der große Haufen aus Erde, Steinen und Scherben neben dem – von rechts gesehen – zweiten Atelier verbirgt den Eingang zu einem Tunnel. Nur zur Tarnung ist er mit Kürbis und Kartoffeln bewachsen, man muss nur diese Steinplatte beiseiteschieben und steigt hinab in die Prignitzer Unterwelt … Durch den Tunnel, erfahre ich, werden die Kaninchen befreit und in den Käfigen durch Roboter ersetzt, die von lebenden Tieren nicht zu unterscheiden sind. Die Prototypen „Deutscher Riese“ und „Belgischer Rammler“ wurden von bildenden Künstlern wie Harry und Atif und Karen entwickelt. Robotriese und – rammler sehen so echt aus, dass sie versentlich auch schon gerettet wurden. Die Arbeitsteams wechseln jeden Monat, damit kein Verdacht aufkommt.
Und nun geht es voran. Coronabedingt sind wir in diesem August zwar nur zwei auswärtige Residentinnen aus Berlin, etliche Helfer aus dem Ausland, mit denen fest gerechnet worden war, konnten nicht einreisen, leider ist auch Hannni Hahn aus Hühnerland noch nicht von seinem Yoga-Kurs zurück, obwohl wegen seiner Erfahrung mit der Befreiung von tausenden
Hennen des damaligen Hühnerlagers unverzichtbar. Aber fast täglich gesellen sich zu uns motivierte kreative Besucher*innen aus anderen Bundesländern wie Brandenburg, Meckpomm, Sachsen-Anhalt und nicht zu vergessen Hühnerland. Fast alle sind irgendwann aus lauter Entsetzen vegetarisch oder sogar vegan geworden..– Wir bringen die Kaninchen nachts in den Wald weit hinter die Bahnlinie, dort bewacht Tracy die Auffangstation, bevor die Geretteten ausgewildert werden. Und der Abraum aus dem Tunnel, der in der sandigen brandenburgischen Erde immer wieder einbricht, das heißt die Sache ist echt nicht ungefährlich, der wird nachts in die wartenden Waggons geschmissen, auch hier kann ich mich einbringen. Und natürlich wird die gesamte Aktion künstlerisch begleitet: in Fotos, Stories, Gedichten, Collagen, Dokumentarfilmen, Gemälden, sowie auch musikalisch. „Es fährt ein Zug nach irgendwo, den es noch gestern gar nicht gab … Die Zeit verrinnt, die Stunden gehen, bald bricht ein neuer Tag heran … noch ist es nicht für uns zu spät.“ Ich sehe nun, dass mein Aufenthalt in diesem Bahnhof echt Sinn macht. Kultur dient der Freiheit. Jawohl!!!